Ein Kommentar zur „Schande von Clausnitz“ – aus der Sicht eines Clausnitzers

– Eine Wahrheit, die viele nicht hören wollen –

Vier Tage sind es jetzt seit den Vorfällen von Clausnitz vergangen. Seitdem gab es unzählige Berichte, landesweit. In sozialen Medien hagelt es an Kommentaren. Ich lese von Empörung und Unverständlichkeit bei nationalen und sächsischen Politikern, bei Menschen in sozialen Medien, ich sehe Anfeindungen gegenüber den Clausnitzer Bürgern, ich sehe Solidaritätsbekundungen verschiedener Seiten, mit Flüchtlingen sowie dem Mob. Ich lese von Freunden, wie sehr sie das Geschehene verabscheuen. Und ich habe das Gefühl, es ist jetzt an der Zeit, etwas zu sagen, das schon lange gesagt werden sollte.
Ich selbst lebe nicht mehr in Clausnitz, aber ich bin noch regelmäßig da und ich habe das Gefühl, es geht auch mich etwas an. Es fällt mir nicht ganz leicht, die folgenden Worte zu formulieren. Sie sind eine unbequeme Wahrheit. Eine, mit der ich und viele andere aufgewachsen sind. Eine, die viele sicherlich nicht hören wollen. Aber sie ist eine Tatsache. Es geht dabei um Menschen, dir mir einmal nahestanden oder immer noch nahestehen. Und es ist Zeit, dass einige die Augen aufmachen, dass sie einsehen und akzeptieren, dass es ein Problem gibt.
Ich selbst kenne nicht die Antworten auf alle Fragen. Ich bin nicht motiviert, jemanden zu diffamieren, bin nicht motiviert, Vorwürfe zu machen. Ich möchte nur dazu beitragen, aufzuklären. Die Situation objektiv zu betrachten, ohne plumpe Parolen, Anschuldigungen, Provozierungen und Polemisierung.

Als ich am Freitag die landesweiten Nachrichten lese, entdecke ich neben der Berichterstattung vom EU-Gipfel und den Anschlägen in der Türkei gleichmehrfach den Namen meines Dorfes, „Clausnitz“. Hier leben nicht einmal mehr 900 Einwohner. Abgelegen im Erzgebirge, fernab der sonstigen Geschehen. Gewöhnlich gibt es nicht viel zu berichten. Ich bin natürlich überrascht. Dann lese ich „Grölende Menge blockiert Bus mit Flüchtlingen“. Meine Überraschung verfliegt – innerhalb weniger Sekunden. Hatte ich doch in den Wochen zuvor mehrmals gegenüber anderen erwähnt, ich mache mir eher Sorgen um die Sicherheit der Flüchtlinge als um die Sicherheit der Clausnitzer.

Warum hatte ich das gesagt? Warum hielt sich meine Verwunderung über das Geschehene so sehr in Grenzen?

Bereits im August 2015, nach den flüchtlingsfeindlichen Ausschreitungen und Vorfällen in Heidenau, berichtete eine junge Dame aus der Gegend bei Spiegel Online von ihren Jugenderfahrungen, getitelt „Was in Heidenau passiert, ist nichts Neues“. Heidenau liegt zwar 70km Autofahrt von Clausnitz entfernt, jedoch las sich jedes einzelne ihrer Worte so nachvollziehbar für mich als hätte ich ihre Zeilen selbst verfasst. Sie hätte es kaum passender beschreiben können: „Wie viele andere war ich erschrocken und wütend, als ich die ersten Bilder und Berichte aus Heidenau sah. Was dann jedoch folgte und bis eben anhielt, war die absolute Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit, weil mir alles so vertraut vorkommt, weil ich den Ort ja kenne, aber auch, weil die Stimmung, die rassistischen Einstellungen, die Ablehnung von allem Fremden und Neuen sowie die rechten menschenfeindlichen Spannungen in mir vor allem die eigene Erinnerungen an meine Jugend in Pirna wecken.“

Genauso wie in ihrem Fall wecken die Ereignisse von Clausnitz meine Erinnerungen. Ich erinnere mich an den Alltag, an gewöhnliche Feiern und Feste, an Lagerfeuer, an Grillen und Musik. Alles ohne jeglichen Zwischenfall. Aber ich erinnere mich auch an jene Momente, in welchen ich vor über zehn Jahren im Jugendclub von Clausnitz sitze, wie einige Dutzend von uns Bier trinken, wie einer in der Menge brüllt „SIEG…!!!“ und ihm ein Sprechchor vieler im Raum anwesender mit gehobener, rechter Hand folgt: „HEIL!!!“. Es hört sich unverständlich an, aber ich sehe es vor mir als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich, wie der Vater einer Freundin auf offener Straße vorm Bierzelt des jährlichen Dorffests brüllt: „SIEG…!!!“. Als wäre es gestern gewesen. Ich erinnere mich, wie in einer der umliegenden Kleinstädte der Türsteher eines Clubs mit Springerstiefeln, ThorSteinar-Jacke und Glatze einem Gast mit Rastalocken den Kiefer ausschlägt. Ich erinnere mich an judenfeindliche Sprüche. Ich erinnere mich daran, wie eine Gruppe von Freunden nachts beim Trinken aufsteht und sich gemeinsam auf den Weg macht, um einen anderen Jungen im Dorf zu verprügeln. Und zwar, weil er in ihren Augen „ein Assi war“, einfach weil er „anders war“. Ich erinnere mich an Schlägereien vor Bierzelten und vor Gasthöfen. Ich erinnere mich an aggressive Stimmung und an Pöbeleien. Ich erinnere mich an den Respekt vor den Älteren, denn man wollte ja „keine auf’s Maul“.
Natürlich, diese Erinnerungen waren nicht der Alltag. Aber ab und an – ja manchmal – da passierten diese Dinge. Nicht nur in Clausnitz, sondern in allen Ortschaften in der Gegend.

Die junge Dame aus dem Spiegel-Online-Artikel beschrieb es in ihrem Fall mit „Wenn ich meine Freundinnen damals daheim besuchte, war es nicht selten der Fall, dass einer der großen Brüder ein Fascho war. War halt so. Was soll’s? Auf den Dörfern rund um Pirna und Heidenau waren (und sind?) alle Jugendklubs in der Hand von Neonazis. Nobody cares.“

Ich habe heute noch immer das Gefühl, viele waren sich damals gar nicht bewusst, was sie da eigentlich sagten. So als ob es einfach nur ein Spaß wäre. Als wäre es das normalste der Welt, als würde man es nicht anders kennen. Ich denke an einige meiner Jugendfreunde und ich sehe keine Nazis, sondern einfach nur naive Jungen, die eben mal mit dabei saßen, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Die eben das aufgriffen und machten, was die Älteren auch taten. Bei einigen konnte man sicherlich von jugendlicher Naivität sprechen. Aber was bei denen, die schon in ihren späten 20ern steckten beziehungsweise heute erwachsene Männer sind? Es mag sein, viele der Personen von damals sind älter geworden. Viele haben Frau und Kinder. Man könnte sich also denken, jene sind verantwortungsvoller und bedachter geworden. Aber so sein muss das nicht.

Man hätte die meisten auf der Straße nicht als rechte Sympathisanten erkannt. Die meisten waren ja auch keine. Einige andere aber schon. Ja, es gab diese paar Leute und es gibt sie offensichtlich immer noch. Und ab und an saß man mit ihnen zusammen. Als junger und naiver Mensch möchte man irgendwo dazugehören. Viele Möglichkeiten gab es ja auch nicht – in einer Gegend, aus der einige von uns jeden Morgen über eine Stunde mit dem Bus zur Schule fahren mussten. Und dann saß man eben auch ab und zu mal in eben jenen Runden.

Die Menschen in Clausnitz und in Sachsen

Wenn man dies liest, hat man womöglich genau das Bild, was einem die Videos im Internet bereits bieten. Es scheint vielleicht für einen kurzen Moment verständlich, wie einige Individuen in sozialen Medien und besonders auf der facebook-Seite von Clausnitz jeden einzelnen Einwohner verbal an den Pranger stellen, jeden einzelnen Sachsen als Nazi bezeichnen, ja sogar in manchen Fällen ganz Ostdeutschland diffamieren. Aber das geht zu weit. Viel zu weit. Denn: Das, was die Videos vom Donnerstagabend zeigen und das, was ich hier gerade beschrieben habe, das ist nur ein Teil und zwar ein kleiner. Ein Teil, der zwar existiert – aber diese Erfahrung auf alle anderen Menschen in der Umgebung zu pauschalisieren, wäre genau so simpel und dumm wie alle Flüchtlinge als Kriminelle abzustempeln. Wer so etwas tut, dem sollte man nicht mehr zuhören, dem sollte man keine Achtung mehr schenken.

Denn um ehrlich zu sein, kenne ich mehr wunderbare Menschen in Clausnitz als solche, die man hinsichtlich einer braunen Gesinnung verurteilen wollen würde. Wunderbare Menschen, liebevolle Menschen, bescheiden, ehrlich und verantwortungsvoll. Menschen, die ich jedes Mal genau aus diesen Gründen gern wiedersehe, wenn ich nach Hause fahre. Menschen, die dazu beitragen, dass man sich hier wohlfühlt. Menschen, die niemandem etwas zu leide tun und genauso wenig gegen jemanden hetzen würden. Und das gilt auch für den Rest von Sachsen, seien es andere Dörfer im Erzgebirge, sei es Chemnitz, seien es Dresden oder Leipzig.

Und es gibt genauso Menschen im Dorf, die sich im Vorfeld bereiterklärt haben, bei der Integration der ankommenden Flüchtlinge zu helfen. Es gibt Menschen im Dorf, die das, was am Donnerstagabend geschehen ist, ablehnen. Es gibt Menschen, die wissen und anerkennen, dass es ein Problem mit rechtsextremer Gesinnung gibt und die sich dagegen engagieren. Eine sehr gute Freundin aus Clausnitz engagierte sich jahrelang ehrenamtlich in entsprechenden Projekten zur Aufklärung gegen Rechtsextremismus in Schulklassen. Eine Freundin aus einem etwas weiter entfernten Dorf schrieb mir jetzt gerade, dass sie mit anderen Menschen in Chemnitz die psychotherapeutische Versorgung der Flüchtlinge und Helfer ausbaut und sich davon auch gern mehr in der ländlichen Gegend wünschen würde. In Sachsen gibt es viele Beispiele von Menschen, die sich bemühen, etwas zu unternehmen und die diese Missstände nicht hinnehmen wollen. Aber diese sind genauso wie der rechtsextreme Teil eine Minderheit in unserer Gesellschaft. Der große Teil unserer Gesellschaft sind Personen, die damit nichts zu tun haben und auch nichts damit zu tun haben wollen. Das beantwortet vielleicht auch zum Teil die Frage, warum denn so gut wie keiner etwas dagegen tut, wenn sich Vorfälle wie die vom Donnerstagabend ereignen.

Wie kann es sein, dass es so verharmlost wird?

Denn wenn wir ehrlich sind, leben alle in der Gegend mit einem Problem: Einer überall existierenden, oftmals unauffälligen, braunen Gesinnung, die sich teilweise im Verborgenen langsam dahinentwickelt, bis sie zu solchen Vorfällen wie in Clausnitz führt. Eine Entwicklung, die viele ganz einfach nicht sehen wollen. Und die dadurch geduldet wird.
Aber wenn wir auch hier wieder ehrlich sind: Ist es so schwer, genau das zu sehen? Sollte die Anzahl der jungen Leute mit Glatze und Springerstiefeln in jedem Dorf nicht eigentlich ersichtlich sein? Man muss dazu nur ab und zu einmal das Haus verlassen. Dass im rechtsextremen Spektrum beliebte Modemarken wie Thor Steinar hier gern getragen werden, könnte man auch erkennen, wenn man einfach einmal hinschaut. Und auch, wenn es diese Anzeichen nicht gibt, so würde man es immer noch an den fremdenfeindlichen Aussagen des Kollegen, des Freundes oder des Nachbarn erkennen.

Deswegen könnte man dem Großteil der Leute zumindest eines ganz klar vorwerfen: Ihre Ignoranz.

Auch dies wurde im Falle von Heidenau in zuvor genanntem Artikel wunderschön auf den Punkt gebracht: „Beim Pirnaer Stadtfest gibt es jedes Jahr ein Zelt, das bis zum Bersten voll mit Thor-Steinar-Nazis ist. Alle wissen es, alle gucken weg.“

Leider zeigt sich das auch beim Kommentar des Bürgermeisters der Gemeinde bezüglich der Geschehnisse vom Donnerstagabend. In der Presse liest man, „der Großteil der Menge sei an diesem Abend nicht auf Krawall gebürstet gewesen. Gegen Flüchtlinge habe sich der Protest nicht gerichtet: Es ging um die große Politik und nicht um die Menschen an sich“. Auch seien viele der Anwesenden gar nicht aus Clausnitz, und viele hätten nur sehen wollen, wer denn da kommt. Es würde alles übertrieben dargestellt.
Der Bürgermeister, Herr Funke, wurde erst letztes Jahr gewählt. Ich habe mich sehr darüber gefreut und tue das auch immer noch. Von all dem, was ich bisher von ihm gehört und gelesen habe – und besonders im Vergleich zu seinen Mitbewerbern – ein kompetenter, weltoffener sowie netter und ambitionierter Mensch. Jemand, den ich mir für meine Gemeinde als Bürgermeister wünsche.
Aber hier zeigt sich genau der oben beschriebene Sachverhalt. Das Problem der rechten Gesinnung einiger Leute wird vom Rest kleingeredet, verharmlost. Man schaut weg. Man will es nicht wahrhaben.
In einem Online-Kommentar zur Gegendemonstration am Samstag wird dies mit passenden, wenn auch leicht übertriebenen Worten beschrieben: „Die Äußerungen des Bürgermeisters stehen stellvertretend für soviele andere, die Nazis nicht mal dann erkennen wollen wenn mit dem Hitlergruß, der sächsischen Variante der Willkommenskultur, salutiert wird (…)“ (Nur ist der Hitlergruß zum Glück nicht die sächsische Variante der Willkommenskultur, sondern der hier so oft genannten Problemgruppe).

Auch ein weiterer Artikel von Spiegel Online bringt es fast auf den Punkt: „Niemand in dem Erzgebirge-Ort Rechenberg-Bienenmühle streitet ab, dass das so vorgefallen ist. Es gibt – zum Glück – ein Video. Aber warum sich nun so viele Leute aufregen? Warum Reporter in den Ort kommen? Die Einwohner verstehen es nicht.“ Einige verstehen es schon, die Frage ist nur, wie viele.
Ich habe einem Freund von mir geschrieben. Die Antworten waren für mich persönlich eher ernüchternd. Die gleichen Wortlaute: „Die Leute wollten nur schauen, wer da kommt“, „Die paar Schreihälse, das waren doch nur 10 von 100“, „aber man muss doch auch mal die Leute verstehen“, „und dieser Junge da im Bus, der hat doch auch noch provoziert und den Stinkefinger gezeigt“.
Auch hier macht sich deutlich: Manche wollen das Problem einfach nicht sehen und nicht darüber reden. Stattdessen wird davon abgelenkt und auf andere Sachverhalte verwiesen. Es klingt in etwa so wie „Jaja, A ist schlimm, klar, aber schau doch auch mal auf B und C. Die sind auch nicht besser.“ Es klingt für mich, als hätte ein kleines Kind etwas Schlechtes getan und nun wolle es sich herausreden: „Aber die anderen haben’s doch auch gemacht!“.
Ich lese und höre „Aber die Antifa ist doch auch nicht besser!“. Natürlich, Extremismus braucht keiner von uns, besonders keinen gewalttätigen. Hass und Gewalt sind keine Lösung. Aber auch hier: Das tut dem Ganzen nichts zur Sache. Das sind Probleme in Leipzig, in Hamburg oder Frankfurt. Aber nicht in der Erzgebirgsgegend um Clausnitz. Hier gibt es keine Antifa. Hier gibt es Rechtsextremismus. Und darüber sollte man reden.

Natürlich waren genug Clausnitzer anwesend. Jeder weiß es. Wie viele, das spielt am Ende keine Rolle, denn wie schon gesagt – das ganze Problem beschränkt sich nicht nur auf ein Dorf. Sehr bezeichnend ist für mich allerdings, dass einige Bekannte wirklich einfach da waren und geschaut haben. Naja, kann ich verstehen, auf dem Dorf ist das ein großes Ereignis. Aber direkt neben dem pöbelnden Mob? Ohne ein Wort zu sagen? Oder besser noch, ohne einfach zu verschwinden, wenn es in solch eine Situation ausartet? So als wäre es das normalste der Welt, dabei zu sein. Um dann nach Hause zu gehen, sich schlafen zu legen und am nächsten Tag auf Arbeit zu fahren, als wäre nichts gewesen? Fällt etwas auf? Ist dieser Sachverhalt nicht die passende Metapher für das zuvor geschilderte Problem? Man weiß von der Gesinnung des Nachbarn, aber selber hat man ja sonst kein Problem mit ihm, also lässt man ihn eben mal machen, wie er denkt.
Oder, und das ist ein ebenso wichtiger Teil des Problems: Sympathisiert man womöglich gar insgeheim mit dieser Fremdenfeindlichkeit und will es nur nicht öffentlich kundtun? Stattdessen freut man sich darüber, dass es andere lautstark genug tun.
Einige Menschen sagen tatsächlich, sie schämen sich. Aber ich frage mich: Tun sie das sonst auch? Unter anderem dann, wenn wieder einmal jemand auf der Straße steht und die rechte Hand in die Höhe streckt? Oder schauen sie weg, haben nichts gesehen?

Es ist ein Problem, dass sich in der Geschichte leider schon mehrmals wiederholt hat und zu welchen Albert Einstein einst zurecht geschrieben haben soll :„(…), dass die Welt mehr bedroht ist durch die, welche das Übel dulden oder ihm Vorschub leisten, als durch die Übeltäter selbst“.

Im November 2004 wurde die NPD in den sächsischen Landtag gewählt. Im letzten Jahr fand der größte Teil der rechten Gewalttaten gegen Flüchtlinge in Sachsen statt. Wer das nicht sehen kann oder nicht sehen will, ist nicht blind, sondern naiv und ignorant.

Warum liegt das Problem aber nicht nur im Rechtsextremismus?

Ich möchte behaupten, es gibt in Clausnitz keine rechte Szene, aber es gibt bei einigen eine gewisse Sympathie. Und zwar eine, die besonders dann geweckt wird, wenn die Leute zwangsweise mit etwas Fremdem konfrontiert werden, dass ihnen auf den ersten Blick Unbehagen bereitet. Ich glaube, wenn man in Clausnitz lebt, dann ist es wahrscheinlich, auf persönlicher Ebene eher Menschen zu kennen, „die einem selbst in Aussehen, Kultur und Glaube ähnlich sind“. So war es jedenfalls damals bei mir. Dazu gehören dann eben keine sozialen, ethischen, kulturellen oder religiösen Gruppen, die in Deutschland manchmal Diskriminierung erfahren, also etwa keine Homosexuellen oder Menschen nicht-christlicher Religion. Es sind für einige „andere Menschen“, von denen man hört, aber mit welchen man wohl eher nichts zu tun hat.
Auch fand ich es früher lustig, wie schnell sich die unsinnigsten Gerüchte unter einigen Leuten verbreiten. Jetzt sehe ich das nicht mehr so amüsant, aber anscheinend hat sich ansonsten nicht viel geändert. In den letzten Monaten habe ich wieder ab und zu mitbekommen, wie von einigen die unglaubwürdigsten Gerüchte und Halbwahrheiten ohne Zweifel aufgenommen werden. Bei Familie, Nachbarn, Freunden. Man hört Dinge wie „Die Flüchtlinge kriegen im Monat jeder 1000Euro in den Hintern geschoben und wir, wir kriegen gar nichts, wir müssen selbst sehen, wie wir zurechtkommen!“ oder „Ich habe gehört, die klauen Pferde und schlachten sie dann ab“. Einige Menschen sind leider anfällig für solche Geschichten, auch wenn sie schon lange in den Medien von offizieller Seite dementiert worden sind. Jene sind aber nicht nur leicht empfänglich für diese Gerüchte, sondern auch für die damit verbundenen Ängste, Sorgen und Vorurteile, welche dann in manchen Fällen schnell zu fremdenfeindlichen Einstellungen und Aussagen führen. Und leider werden diese Ängste und Vorurteile von bekannten Politikern in Sachsen und auch speziell im Erzgebirge in den meisten mir bekannten Fällen noch mehr angefeuert als dass diese für Information und Aufklärung sorgen würden.

Von daher könnte man – versetzt man sich in ihre Lage – viele Menschen in der Gegend in gewisser Weise verstehen, wenn sie Unbehagen beim Gedanken an Nachbarn aus einer fremden Kultur entwickeln. Im Vergleich zum Großstadt-Berliner oder -Münchner lebt man hier ein einfaches, bescheidenes Leben in der idyllischen Abgeschiedenheit auf dem Land. Man geht seinem Alltag nach. Dabei interessiert und tangiert nun einmal keine Weltpolitik sowie alles, was weit in der Ferne passiert. Warum auch? Muss es ja auch nicht. Es ist so weit weg, was soll man denn damit zu tun haben? Wenn man in Clausnitz über Politik redet, dann hört man Phrasen wie „Die da oben“. „Die da oben, denen ist der kleine Mann egal“. Damit ist dann meistens die Regierung gemeint. Es ist nicht alles greifbar, was da in der Tagesschau über Dinge berichtet wird, die tausende Kilometer entfernt passieren. Und das ist okay. Es wäre so gesehen eigentlich alles bestens, würde die Bundesregierung in ihrer Flüchtlingspolitik nicht einfach etwas entscheiden, das einen nun plötzlich doch hautnah betrifft. Und das alles, ohne dass man überhaupt gefragt wird. Die Situation ist nicht gut organisiert, es kommt irgendwann eine Meldung „Wir quartieren jetzt jemanden bei euch ein, egal ob ihr wollt oder nicht. Wir sagen euch auch nicht, wer. Wir sagen euch nicht, wann. Wir sagen euch nicht, was das für euch bedeutet. Punkt!“. Dass die Koordination und die Verteilung hunderttausender ankommender Leute eine schwere Herausforderung ist und dass es nur durch viele ehrenamtliche Helfer überhaupt möglich ist, das Ganze noch einigermaßen zu bewerkstelligen, braucht man nicht zu bezweifeln. Natürlich kommt es da zu Informationsengpässen. Dass die Bewohner unzufrieden sind, kein Mitspracherecht zu erhalten, ist jedoch auch nicht verwunderlich. Diese Situationen sind keine einfachen, sie sind kompliziert. Es bedarf Kompromissen und ein Entgegenkommen beider Seiten. Und auch überhaupt einen Willen, zu helfen. Sonst kann es nicht funktionieren. Das meinte wohl auch der Bürgermeister, als er sagte „Es ging um die große Politik und nicht um die Menschen an sich“.

Trotzdem, wenn ich so mit einigen Leuten darüber spreche, wirkt deren Aufregung über die ankommenden Flüchtlinge immer noch etwas kindisch. Sie fangen an, aufzuschreien, wenn 25 Leute in ihren Ort kommen, während man in Bayern mit der Versorgung hunderttausender, ankommender Menschen zurechtkam. Es wirkt für mich auch etwas kindisch, wenn ich höre „Ja, aber denen wird doch alles in den Arsch gesteckt! Und wir? Wir müssen sehen, wie wir zurechtkommen!“. Besonders, wenn ich betrachte, wie die Situation davor war, „vor den Flüchtlingen“. Denn auch da wurde von einigen Personen schon immer gejammert, gelästert, niemandem etwas gegönnt. Sei es das Arbeitslosengeld der Nachbarn, das neue Auto des Kollegen, oder einfach so, weil es für eben jene Personen dazu gehört, ab und an mal schlecht über andere zu reden. Es scheint, als wären einige Menschen von Grund auf regelrecht immer unzufrieden, egal was man ihnen anbietet. Sie sehen, dass es jemand anderem gut geht und sie wollen es auch. Sie werden vom Neid zerfressen. Aber Neid worauf? Wie gesagt, es gibt hier einige, die denken, Flüchtlinge könnten sich auf Grund des „vielen ihnen bewilligten Geldes“ teure Markenklamotten in Massen leisten, weil einige von ihnen ein Adidas-T-Shirt aus den Spenden anderer Bürger bekommen haben. Aber noch viel schlimmer: Sie denken tatsächlich, ihr Leben wäre plötzlich schlechter gestellt, weil da ein paar Leute kommen und 500m weiter ein Haus beziehen. Um realistisch zu sein: Nicht das Leben einer einzigen Person ändert sich dadurch, ob diese Wohnungen belegt sind oder nicht. Das Leben eines jeden einzelnen geht genau so weiter, wie es vorher war. Der eigene Fernseher im Wohnzimmer bleibt der gleiche, egal ob die Flüchtlingsfamilie einen neuen Elektro-Herd bekommt oder nicht. Und der Fernseher wäre auch der gleiche geblieben, wenn niemand nach Clausnitz gekommen wäre. Ich sehe auch hier wieder metaphorisch ein Kind vor mir, dem es doch gut geht, das aber wütend ist, weil es keine Playstation bekommen hat, so wie das Nachbarskind. Und dabei wollte es doch vorher selbst gar keine. Nur geht es hier nicht um eine Spielkonsole, sondern darum, Menschen, die geflüchtet sind, in sonst leerstehenden Wohnungen ein zu Hause zu bieten.
Ich habe das Gefühl, dass jene, die so fühlen, nicht in der Lage sind, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, für ihre eigenen Probleme. Sie werden immer unzufrieden sein und sie werden die Schuld dafür nie bei sich selbst suchen, sondern immer bei anderen.  Immer. Bei „denen da oben“ sowie bei „den Ausländern, den Flüchtlinge, den Andersartigen, die nicht so sind wie wir und die hierherkommen und uns alles wegnehmen“.

Dies wurde im Falle von Heidenau nicht anders beschrieben: „Ich habe es einfach nicht mehr ertragen, die schlechte Stimmung, die Abschottung gegen alles Neue und Andere, die Verbitterung über den Fall der Mauer, der Wunsch nach der Rückkehr zur Vergangenheit, der fehlende Wille, eine Zukunft zu gestalten.“

Für mich klingt es oft wie Realitätsverdrängung. Denn wenn wir realistisch sind, müssen wir uns alle eines eingestehen – auch jeder, der am Donnerstagabend in Clausnitz war: Uns geht es gut. Uns geht es besser als dem Großteil der Menschheit auf diesem Planeten. Wir leben in einem stets größer werdenden, materiellen Wohlstand. Wie viel mehr jeder einzelne besitzt als vor 10, 20 oder 30 Jahren, das haben die meisten schnell vergessen. Das könnte man auch zu schätzen wissen, anstatt sich darüber aufzuregen, dass der Rasen des Nachbarn manchmal grüner ist.
Und natürlich, viele von uns mögen in unserem kleinen Alltag gar nichts mit dem zu tun haben, was weit entfernt im Mittleren Osten passiert. Wir mögen nicht für die Unterdrückung von Menschen in anderen Ländern verantwortlich sein. Aber es sind auch unsere Politik und unser ressourcenintensiver Lebensstandard ist, die Probleme in weiter Ferne produzieren. Dies wird genauso im selben Atemzug vergessen. Die Welt ändert sich und ob wir wollen oder nicht, sie wird es weiter tun. Und egal ob rechte Sympathisanten im Erzgebirge es wollen oder nicht, ihr hochgepriesenes Deutschland trägt auch dabei Verantwortung. Ebenfalls dann noch, wenn viele das nicht wahrhaben wollen. Realitätsverdrängung.

Das spiegelt sich auch in einem anderen Sachverhalt wieder, der mich stört. Ich würde sogar annehmen, dass der Großteil der Menschen im Erzgebirge so wie ich selbst im eigenen Freundeskreis und in der eigenen Familie Leute kennt, die vor drei Jahrzehnten vorm DDR-Regime nach Westdeutschland geflohen sind. Was hat man diesen damals gewünscht? Dass sie dort wie am Donnerstagabend in Clausnitz empfangen worden wären, dass sie „dorthin zurückgeschickt worden wären, wo sie herkamen“, um dann zurück im Osten von der Stasi festgenommen zu werden? Ich glaube nicht. Ich glaube, dass viele Menschen daheim so wie ich Nachbarn haben und hatten, die nach dem zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer deutschen Nationalität aus Polen teils gewaltsam vertrieben wurden, die furchtbares durchmachen mussten. Hätte man denen, die die Strapazen überlebten, gewünscht, so wie am Donnerstagabend in Clausnitz empfangen zu werden und dann in ständiger Angst zu leben, irgendwann nachts in einem brennenden Haus aufzuwachen? Ich glaube nicht. Es wäre wünschenswert, dass sich einige Menschen genau diese Dinge einmal wieder vor Augen führen, anstatt sie zu vergessen, oder gar zu verdrängen.

Das alles gesagt, muss man trotz alledem noch eines anmerken. Und zwar, dass es nach wie vor vollkommen legitim ist, eine Meinung zu haben. Dass es vollkommen legitim ist, sich unberechtigt behandelt zu fühlen und das auch auszusprechen. Dass es vollkommen legitim ist, zu sagen, man selbst möchte nicht helfen, man selbst wolle keine Flüchtlinge unterstützen, zu sagen, man fühle sich unwohl damit, man hätte Bedenken. Unter den ankommenden Flüchtlingen mögen genauso Individuen sein, die viele nicht da haben möchten, wie solche, denen man doch helfen möchte, wenn man sich ihre Lage vor Augen führt. Auch das zu verschweigen und zu glauben, jeder in unserer Gesellschaft wäre ein sozialer Gutmensch, wäre naiv.
Aber auch in solch einem Fall, wenn man ein unüberwindbares, inneres Problem damit hat, dass viele andere von uns diesen Menschen hier Schutz bieten möchten: Dann lässt man es entweder einfach und hält sich heraus. Lebt sein Leben, lässt andere helfen. Oder man wendet sich wiederholt an die Gemeindeverwaltung, man sammelt Unterschriften, man bietet alternative Lösungsvorschläge, was auch immer. Aber sich mit einer aggressiven Meute am Donnerstagabend ohne Anmeldung zu versammeln, zu hetzen, rechte Parolen zu grölen, Flüchtlinge und Flüchtlingshelfer einzuschüchtern, die Polizei zu behindern? Es gibt Grenzen. Und diese werden überschritten, wenn Dinge wie die in Clausnitz passieren. Das sollte jedem klar sein.

Was bringt es, jetzt die Menschen vor Ort zu diffamieren?

In vielen Berichterstattungen sowie sozialen Medien werden die Menschen vom Donnerstagabend angefeindet. Viele Kommentare könnte man wohl in etwa zusammenfassen wie „Schämt euch! Wie könnt ihr nur?! Ihr habt den Namen Eures Dorfes in den Dreck gezogen. Es wird schwer sein, da wieder herauszukommen.“
Habe ich das Gefühl, dass dies etwas bringt? Um ehrlich zu sein: Nein.

Jenen, die in Clausnitz gemeinsam gegrölt haben – ich glaube, es ist ihnen scheißegal. Ich glaube, sie stehen dazu und sind mehr stolz darauf als dass sie sich schämen würden. Und ich glaube, jegliche Kritik sehen sie nicht als Grund zum Zweifel, sondern als Bestätigung.

Ein Artikel des Freitag formulierte dies sehr passend: „Meinungen kann man nicht verbieten. Meinungen muss man bilden. Mit Hass gegen Hass wird das nicht gelingen. Mit Spott und Häme auch nicht. Es braucht Aufklärung und Geduld. Es braucht Bildung und Gespräche. Das wird Jahre dauern. (…) Ich kann es nicht leugnen, so gern ich es auch würde: Ich halte Fremdenfeindlichkeit für dumm, geradezu idiotisch. (…) Diese Haltung ist aber wenig hilfreich. Sie erhöht mich zum intelligenten kosmopolitischen Gutmenschen und erniedrigt die fremdenfeindlichen Demonstranten zu einem braunen Mob, auf dem ich verächtlich herabblicke. Ich liege richtig, die liegen falsch. Die sehen das naturgemäß anders. Zwischen denen und uns gibt es keine Schnittstellen. Keine Diskussionen. Keine Begegnung. Wir vergewissern uns der Richtigkeit unserer Meinung in unserem Umfeld und die machen es genauso. Allerdings in ihrem.

Was man also tun sollte? Viele versuchen, vermeintliche Antworten zu bieten. Aber wenn ich ehrlich bin: Ich sehe keine. So wie auch nie zuvor. Und solange die in Sachsen bestehende und etablierte Politik die Zustände nicht erkennen will, solange sie diese Zustände bewusst kleinredet, solange viele im Rechtsextremismus insgeheim kein Problem sehen wollen, solange wird es sehr schwierig.

Aber es gibt mir zu hoffen, dass es in Sachsen viele Menschen gibt, die diese Missstände verurteilen, die sich damit unwohl fühlen, und die sich fragen, ob es irgendwann möglich ist, sich auch hier überall in einer toleranteren, weltoffeneren Gesellschaft zu Hause zu fühlen.

Und ich hoffe, es fängt mit jenen Menschen an, die bisher diese unbequemen Tatsachen verdrängt haben. Und zwar dadurch, nicht mehr wegzuschauen. Ich würde mir wünschen, dass sich viele Menschen daheim fragen „Wollen wir Rechtsextremismus unter uns? Brauchen wir das? Machen diese rechtspolitischen Gesinnungen unser Leben besser?“ Und dass diejenigen, die diese Fragen klar mit nein beantworten können, sich offen gegen rechtsextreme sowie rassistische Äußerungen und Motive aussprechen. Dass sie dazustehen. Dass sie dem ein oder anderen im nötigen Fall sagen „Hey, lass es! Du kommst auch ohne diese braune Sch…. klar!“. Dass sie Dinge in Zweifel stellen, die von Rechtspopulisten verbreiten werden. Dass sie sich nicht von plumpen Sprüchen und Ideen einnehmen lassen.
Dass sie dazu beitragen, dass Clausnitz und das Erzgebirge ein schöner Ort bleiben. Und keiner, der irgendwann in der braunen Falle versinkt.

Zum Schluss bleibt mir noch persönlich zu sagen: Ich kenne die Häuser gut, in welchen sich die Flüchtlinge nun befinden. Ich spaziere regelmäßig daran vorbei. In habe einen Teil meines Lebens in diesen Häusern verbracht, bei meiner Großmutter, meinem Onkel und Freunden von mir. Ich für meinen Teil wäre froh darüber, wenn diese Häuser einen nützlichen Zweck finden.